VIRUSBASIERTE ARZNEIMITTEL
Mithilfe von Viren lassen sich krankmachende Gene reparieren oder Krebszellen zerstören – Ihr Einsatz in der Medizin eröffnet neue Ansätze zur Behandlung vieler, auch genetisch bedingter Erkrankungen. Ehe virusbasierte Arzneimittel ihr klinisches Potenzial ausspielen können, müssen Hürden auf ihrem Weg in die Gesundheitsversorgung genommen werden. Kranke und ihr Umfeld oder Patientenorganisationen müssen von Anfang in die Entwicklung dieser zukunftsträchtigen virusbasierten Therapien eingebunden werden.
Zu diesem Ergebnis gelangten Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, die auf Einladung des Hochschulverbunds InnoSÜD und des BioPharma Cluster South Germany am 14. Juli 2022 iim Ulmer Stadthaus vor rund 100 Teilnehmenden zum Motto der Veranstaltung „Vom Feind zum Freund – Viren in der Medizin“ diskutierten und sich austauschten.
Gesellschaftlicher Dialog im Ulmer Stadtaus
Viren – stete Begleiter des Menschen
Viren sind keine Lebewesen, aber jeder Organismus besitzt seine speziellen Viren. Dass das menschliche Erbgut zu acht Prozent aus Viren besteht, berichtete Thomas Mertens. Der emeritierte Ulmer Virologieprofessor und aktuelle STIKO-Vorsitzende am Robert-Koch-Institut führte das Publikum launig durch das Reich der 100 Millionen Arten von Viren. Seine Botschaft: Viren sind nicht bloß Feind oder Freund des Menschen, sondern auch ein Werkzeug der Evolution und seit den Anfängen steter Begleiter des Menschen.
Großer Bedarf für Gentherapien
In Europa leiden etwa 24 Millionen Menschen (davon circa 4 Millionen in Deutschland) an seltenen Erkrankungen, die durch Gendefekte verursacht werden, für die es kaum wirksame Therapien gibt. Dem hohen medizinischen Bedarf stehen jedoch viele Herausforderungen im nächsten Jahrzehnt entgegen, sagte der Chef der Ulmer Unikinderklinik Klaus-Michael Debatin in seinem Rück- und Ausblick zur Gentherapie.
Die von der Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt moderierten Podiumsdiskussionen dominierte zunächst die Frage nach der ungelösten Kassenerstattung für diese hochpreisigen Gentherapien. Landesgesundheitsminister Manfred Lucha forderte hier verlässliche und planbare Spielregeln der Akteure im Gesundheitswesen, um die Innovation nicht zu erschweren.
Bürokratischer Ballast erschwert frühe klinische Studien
Verbesserungsbedarf sieht der Freiburger Gentherapeut Toni Cathomen darin, die Forschung an Patientinnen und Patienten zu bekommen: frühe klinische Studien an Unikliniken kämpften gegen hohen Bürokratieaufwand und machten solche Prüfungen teuer und zeitaufwändig. Mit Blick auf größere klinische Studien sprach sich Klaus-Michael Debatin für eine frühestmögliche Einbindung der Pharmaindustrie aus.
Mehr Zuversicht zu wagen und die Chancen in den Vordergrund zu stellen, regte Fridtjof Traulsen von Boehringer Ingelheim an. Das Pharmaunternehmen investiert derzeit viel in Forschung und Entwicklung onkolytischer Viren, die Krebszellen zerstören sollen. Die Ulmer Grundlagenforscherin Lea Krutzke betonte die Dringlichkeit, Ängste in der Bevölkerung durch Information abzubauen, denn mit virusbasierten Therapien ließen sich erstmals bisher unbehandelbare Krankheiten therapieren.
Virale Vektoren sind heute sicher
Die früher von Virusvektoren ausgehenden schweren Nebenwirkungen sind nach Cathomens Worten fortentwickelt und virale Genfähren somit sicher geworden. Von den elf zugelassenen Gentherapeutika seien bislang keine unerwünschten Wirkungen bekannt. Unklar hingegen sei bei diesen neuartigen Arzneimitteln deren Wirkungsdauer. Nicht vorhersehbar sei die Immunantwort gegen das Virus oder das veränderte Gen, gab Klaus-Michael Debatin aus medizinischer Sicht zu bedenken.
Bilder: photodesign buhl
Komplexe Moleküle – schwierige Herstellung
Die komplexen neuartigen Arzneimittel, die noch hundertfach größer als große Antikörper sind, lassen sich anders als chemisch hergestellte Moleküle nur innerhalb eines definierten Variationsspektrums produzieren. Hier sieht Fridtjof Traulsen noch viel Bedarf an Forschung und Entwicklung.
Sicherheit und Qualität dieser neuartigen Therapeutika müssen nach Ansicht von Zulassungsexpertin Chrystelle Mavoungou von der Hochschule Biberach gewährleistet sein, gerade und vor allem bei der Behandlung von Kindern, für die es strenge Regularien gibt. Das kommt allerdings einem schwierigen Balanceakt gleich, wenn man kranken Kindern, wie es die Weltgesundheitsorganisation fordert, nicht das Recht auf medizinische Innovation versagen will. Diese Gratwanderung bei der eventuellen Teilnahme von Kindern an klinischen Studien bestätigte auch Robert Mader vom Mukoviszidose Förderverein Ulm.
Erkrankte müssen von Anfang an beteiligt sein
Zu behandelnde Personen und ihre Vertreter müssen so früh wie möglich eingebunden sein – Transparenz, Teilhabe und Kommunikation müssten nach Überzeugung aller Diskutantinnen und Diskutanten leitende Prinzipien der Forschung und Entwicklung dieser zukunftsträchtigen virusbasierten Therapeutika sein.
Für die Region entlang der Achse Ulm-Laupheim-Biberach-Ravensburg, die alle Schritte der biopharmazeutischen Wertschöpfung beherrsche, sei diese Klasse neuartiger Medikamente eine große Chance. Cluster-Akteure aus Wissenschaft und Wissenschaft fordern vom Land aber noch mehr wissenschaftliche Exzellenz.
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