Ulm Child Health

Exzellent: Bund fördert Ulmer pädriatische Forschung

Ulms Kinder-und Jugendmedizin zählt zu den sieben Standorten des Deutschen Zentrums für Kinder- und Jugendgesundheit (DZKJ), das nächstes Jahr an den Start gehen soll. Wir haben mit Prof. Klaus-Michael Debatin gesprochen, Standortkoordinator von Ulm Child Health (UCH) und Ärztlicher Direktor der Ulmer Uniklinik für Kinder- und Jugendmedizin.

Im Gespräch mit...

Prof. Klaus-Michael Debatin

Prof. Klaus-Michael Debatin, Vorstandsmitglied des BioPharma Clusters South Germany, ist Ärztlicher Direktor der Ulmer Uniklinik für Kinder- und Jugendmedizin und Koordinator des neuen Ulmer Standorts des Deutschen Zentrums für Kinder- und Jugendgesundheit.
©Universität Ulm

Als Forschungsministerin Anja Karliczek im Frühjahr die Standorte des DZKJ bekanntgab, schrieb die wissenschaftliche Fachgesellschaft:

"Seit vielen Jahren setzt sich die DGKJ dafür ein: Jetzt wird das Gesamtkonzept für ein Forschungszentrum ausgearbeitet.“ Woran hat es denn die Jahre über gefehlt?


Prof. Debatin:
Diskutiert wird über ein Deutsches Zentrum für Kindergesundheit schon, als das erste Zentrum für Gesundheitsforschung gegründet wurde. [2009, d. Red.] Warum? Man wollte hier etwas Ähnliches etablieren wie NIH (National Institute of Health, USA) oder wie in England. In den USA gibt es ein National Institute of Child Health and Human Development. Unsere Fachgesellschaft hat sich vor mindestens acht Jahren zusammengesetzt, Konzepte erarbeitet und mit dem BMBF besprochen. Lange wurde darüber diskutiert, ob man das speziell für Kinder- und Jugendgesundheit machen soll oder nicht besser in den organ-bezogenen Zentren für Gesundheitsforschung unterbringen sollte. Es hat sich herausgestellt, dass in den anderen Zentren mit Ausnahme des Deutschen Konsortiums für translationale Krebsforschung die Belange der Pädiatrie eher wenig vertreten sind. Es gibt noch eine andere Ausnahme: im Deutschen Zentrum für Diabetes und der Lunge gibt es pädiatrie-relevante Segmente. Aber das Thema Entwicklung ist nirgends vertreten. Es folgten viele Besprechungen, Vorschläge und Diskussionen, gerade auch mit dem BMBF. Letztendlich hat die Bundeskanzlerin bei der Einweihung des DZNE in Bonn vor vier Jahren dieses Zentrum angekündigt, das wurde auch im Koalitionsvertrag dieser Regierung festgelegt.

 

Wo sehen Sie den drängendsten Forschungsbedarf für ein solch standortübergreifendes nationales Zentrum?


Prof. Debatin:
Es gibt sehr viele Themen, bei denen viele Kinder und Jugendliche wie kleine Erwachsene behandelt werden. Wir wissen aber, dass dieser Ansatz nicht stimmt. Es fängt an mit Medikamenten, deren Dosierungen sich von denen der Erwachsenen unterscheiden; das betrifft auch die Entwicklung von Krankheiten, die bei Kindern anders verlaufen. Aktuelles Beispiel ist Covid 19: Infizierte Kinder sind nicht krank, zumindest nicht schwer. Offensichtlich reagiert das Immunsystem des Kindes anders als das Immunsystem des Erwachsenen, was aber nichts mit Infektionskrankheiten zu tun hat. Denn bei Influenza erkranken Kinder auch, mitunter so schwer, dass sie auf der Intensivstation liegen.

Eine wesentliche Erkenntnis ist, dass viele Krankheiten, die im späteren Leben auftreten, ihre Wurzeln in Fehlentwicklungen und Fehlsteuerungen im Kindes- und Jugendalter haben. Das geht so weit, dass es Überlegungen gibt und auch Daten, dass bereits die intrauterine Prägung eine Rolle für die weitere Entwicklung spielt. Diese Dinge müssen wissenschaftlich angegangen werden.

Wir und andere Standorte beschäftigen uns intensiv mit dem Immunsystem, mit   Stoffwechsel und Adipositas. Das ist ein drängendes Problem: 20 Prozent der Schulkinder sind übergewichtig. Andere wichtige Punkte sind die Entwicklung von Allergien, auch die neuer Therapieformen, um genetische Erkrankungen gezielt zu bekämpfen. Ein großer Forschungsschwerpunkt ist das Thema Entwicklung.

 

Die Themenfelder von Ulm Child Health.
© Universität Ulm / UCH

Welchen spezifischen Beitrag leistet der Ulmer Standort für das nationale Forschungszentrum? Sie verfügen offenbar über einen reichen Datenschatz…


Prof. Debatin:
Unsere Trümpfe sind sehr große Kohorten: Ich nenne hier die Ulmer Schulkinderkohorte, und die Geburtskohorten (Prof.es Rothenbacher, Steinacker) für Baden-Württemberg. Wir haben auch Krankheits-Register, das größte Register für Typ 1 Diabetes in Deutschland, das rund 80 Prozent aller Jugendlichen unter 18 Jahren in Deutschland umfasst. Hier können wir sehr genau Entwicklungen, Einstellungen und Konsequenzen von Therapien verfolgen. Das Gleiche gilt auch für Adipositas - auch hier verfügen wir über ein großes Register, das noch ergänzt wird von den Leipziger Kollegen.

 

Welche Trümpfe und Vorschläge bringt der Ulmer Standort zu Adipositas und Stoffwechsel in dieses Nationale Forschungszentrum ein?


Prof. Debatin:
Wir haben natürlich diese Kohorten und Register. Aber wir haben eben auch die ganze Diagnostikplattform, um neue Genvarianten der Fehlregulationen molekular zu charakterisieren. Wir haben erstmalig Varianten von Leptin, dem Regulator des Sättigungsgefühls, charakterisiert. Entgegen bisheriger Forschung zeigen wir, dass es sehr wohl unterschiedliche Regulationen gibt; das reicht bis hin zur Schwangerschaft. Was bedeutet zum Beispiel Adipositas in der Schwangerschaft für das Kind im Mutterleib und die spätere Prägung? Das sind Faktoren, da passiert etwas sehr früh in der Entwicklung. Praktisches Beispiel: Sie können am Gewicht eines dreijährigen Kindes ablesen, ob es später übergewichtig sein wird oder nicht. Das, was passiert, passiert früh und ist auch durch Diäten zum Beispiel beeinflussbar. Aber es gibt eine klare frühe Prägung, wir nennen das prenatal metabolic programing.  Dagegen lassen sich viele Dinge unternehmen, Molekular-Untersuchungen, Präventionsprogramme, letztlich auch psychosoziale Betreuung. Unsere Devise am UC heißt „Leave no one behind“.

 

Die Ulmer Pädiatrie am Michelsberg hat auch eine starke Forschung zu Immunsystem und zellulärer Therapie.


Prof. Debatin:
Unsere Forschung bezieht sich nicht ausschließlich auf Krankheitsbilder, sondern fokussiert eher auf Systeme. Unser Ansatz spricht von Systemorientierung, also von Systemen, die Krankheiten verursachen. Adipositas ist an sich keine Krankheit. Sie schafft die Grundlage für die Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, von Krebserkrankungen und einer Vielzahl anderer daraus resultierender Erkrankungen.
Das Immunsystem hat sehr viele Auswirkungen – auf Körperabwehr, Impfungen, Immundefekte, Krebs, Rheuma, Autoimmunerkrankungen, Leber, möglicherweise auch auf das Zentrale Nervensystem.

Die entscheidenden Wegmarken der Entwicklung des Immunsystems ganzheitlich zu untersuchen, ist aktuell ein heißes Forschungsthema. Wie wird das genetisch und epigenetisch gesteuert, welche Rolle spielen Immunsystem und Stoffwechsel? Adipositas führt beispielsweise zu einer überschießenden Entzündungsreaktion im Fettgewebe, das hat systemische Auswirkungen - der Körper produziert mehr Zytokine, der Körper produziert mehr Substanzen, die anderen Organen eine Botschaft übermitteln. Hierbei spielt das Immunsystem eine große Rolle.

Die Entwicklung des Immunsystems ist noch nicht gänzlich verstanden. Das ist harte Grundlagenforschung, die aber eingebettet ist z. B. in eine Longitudinal-Studie („From birth to adulthood“). wo bei den Teilnehmern untersucht wird, wie sich deren Immunsystem von der Geburt bis ins Erwachsenenalter entwickelt.  

 

Die Organisationsstruktur von Ulm Child Health

© Universität Ulm / UCH

Und die Zelltherapie?


Prof. Debatin:
Wir sind hier in Ulm das größte Zentrum für pädiatrische Stammzelltransplantation mit der längsten Erfahrung in Deutschland und eines der ältesten Zentren in Europa. Unsere Konkurrenz ist nicht Heidelberg oder Berlin, sondern Paris, London, New York.

Die Zelltherapie ist jetzt schon und wird in ganz vielen Fällen noch wichtiger werden. Da wollen wir uns noch anders positionieren. Das machen wir mit anderen zusammen – da sind starke Gruppen dabei, wie München, Berlin.  

 

Ihr UCH-Konzept stellt einen Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen und Erkrankungen des Immun-Metabolischen Systems her.


Prof. Debatin:
Dieser Ansatz ist tatsächlich etwas provokativ Neues. Wir haben sehr viele Forschungs-Gruppen der Universität in unser Konzept eingebunden. Wir sind übrigens auch – und da bin ich durchaus stolz auf uns – der einzige Single-Institution-Standort mit einer Universität. Wir haben es geschafft, aus der Universität das Thema Psychologie zu integrieren. Da kommt viel von Prof. Tatjana Kolassa, die sich mit diesem Thema schon länger beschäftigt. Sie untersucht – dafür hat sie übrigens einen ERC-Grant erhalten - die Frage, inwieweit psychische Erkrankungen wie zum Beispiel Depression als metabolische Erkrankung zu sehen sind. Sind Vorgänge im Gehirn die Konsequenz von anderen Veränderungen, die man nachweisen kann? Hier zum Beispiel (NTRK2 methylationin posttraumaticstress disorderPNAS 2020; 117: 21667,) findet man Methylierung in Blutzellen, nicht im Gehirn.

Mentale Erkrankungen als Ergebnis epigenetischer Veränderungen von Stoffwechsel wollen wir auch in Kohorten untersuchen, auch an Eltern-Kind-Gruppen. Wir wollen wissen, wie das der Körper steuert, welche Gene abgelesen werden? Das Thema Epigenetik werden hier am Standort Prof. Rainer Siebert und andere bearbeiten und da sind wir auch Interaktionspartner für die anderen.

 

Auch die Digitalisierung spielt eine Rolle…


Prof. Debatin:
Wir wollen mit digitalen Mitteln gesundheitsförderndes Verhalten ermöglichen. Dieser Ansatz ist ein Alleinstellungsmerkmal). Da gibt es ‚Sensing‘-Systeme, die verschiedene Daten integrieren, die dazu führen, dass man ein Gesundheitsprogramm in eine App integriert. Diese Anwendung sagt mir dann, wie ich mich am besten verhalte, um meine Risikofaktoren zu minimieren. Das wird adaptiert an gerade laufende Dinge, meine Blutwerte mit meinem individualisierbaren Bewegungsprofil. Das wollen wir entwickeln und auch anbieten. Für Menschen mit chronischen Erkrankungen ist das ein wichtiger Begleiter.

Und noch etwas gibt es, was mir ganz wichtig ist: Ethik und Teilhabe. Wir haben in unserem Board auch eine Vertreterin von Patientengruppen, von Elterngruppen, Dr. Anja Bratke. Sie wird uns weiter begleiten, weiter im Advisory-Board unseres UCH-Programms bleiben. Auch ethische Fragestellungen wollen wir einbauen, auch den Umgang mit chronischen Krankheiten zusammen mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie, die eine Art Brücke zum Deutschen Zentrum für Psychiatrie schlägt.

 

Was bedeutet der Erfolg für den Standort, für die Forschenden, für die Patienten, für die Versorgung?


Prof. Debatin:
Den Erfolg kann man nicht hoch genug einschätzen, da ist Ulm jetzt mit einem spezifischen Aspekt in der Medizin vertreten. Das sind ja nur sieben Standorte. Das ist eine Auszeichnung. Was bedeutet das für die Wissenschaftler? Einerseits ist das eine Auszeichnung, natürlich aber auch ein Auftrag für die Zukunft. Man hat gezeigt, dass man gut ist. Und jetzt muss man zusammen Konzepte entwickeln. Im nächsten Jahr wird das Gesamtkonzept nochmals begutachtet.

 

Wieviel Mittel kommen vom Bund?


Prof. Debatin:
Wie viel Geld fließt, ist bislang noch nicht ganz klar. Die deutschen Zentren bewegen sich in einer Bandbreite von etwa 30 Millionen Euro, das sollte perspektivisch bis 50 Mio. gehen, das sind Zahlen pro Zentrum. Bei sieben Standorten werden wir jährlich etwa zwischen vier bis sieben Millionen pro Standort erhalten. Noch nicht ganz klar ist, wie lange gefördert wird. Geplant scheinen zunächst acht Jahre und danach eine erneute Begutachtung.

 

Was wird davon beim Patienten ankommen?


Prof. Debatin:
Da gibt es drei Ebenen. Auf Ebene der Grundlagenforschung ist die Perspektive eher eine langfristige, zehn Jahre etwa, bis das den Patienten erreicht. Dann gibt es klinische Studien, deren Ergebnisse durchaus das Potential für eine unmittelbare Anwendung in den nächsten Jahren haben.

Bringt man Kohorten und Register zusammen und kann sich Verläufe von Patienten anschauen, was welche Interventionen bringen bei welchen Erkrankungen – hier wird der Patient unmittelbar etwas davon haben und er wird vor allen Dingen davon profitieren, dass wir in der Lage sind, in diesem standortübergreifenden Konsortium zum Beispiel bei seltenen Krankheiten Studien aufzulegen und damit werden wir auch interessant sein für die pharmazeutische Industrie.

Die Fragen stellte Walter Pytlik.